Nicht jedem Künstler gelingt es in seinem Werk einen Wiedererkennungswert zu schaffen und es gleichzeitig so offen zu gestalten, dass es Spielraum für Variationen und Entwicklungen bereit hält. Jede Kunst unterliegt einem Auswahlverfahren. Eine künstlerische Handschrift basiert auch auf der Ausbildung von Exklusionskriterien. Die in Südtirol geborene Künstlerin Esther Stocker verfolgt eine inhaltliche und formale Reduktion unter Einsatz eines konkret-konstruktivistischen Formenrepertoires, das sie auf der Leinwand facettenreich variiert. Parallele Linien, die Flächen definieren, geometrische Strukturen, die in der Wahrnehmung zwischen Mikro- und Makrowelten oszillieren, Raster, Rechtecke, Quadrate und kontraststarke Streifen schaffen auf den Bildoberflächen eine serielle Organisation und definieren eine Ordnung, die auch zeigt, dass Unordnung nicht ihr Gegenteil, sondern ihr integraler Bestandteil ist. Manchmal übersetzt Esther Stocker den malerischen Ansatz ihrer Kunst in den Raum und konstruiert Bilder in der Dreidimensionalität. Es entstehen Skulpturen und Fotografien. Stocker hat sich in Kompositionen, deren Farbpalette ausschließlich aus schwarz und weiß sowie unterschiedlichen Graduierungen von Grautönen besteht, der Untersuchung des Exakten verschrieben. Damit will sie jedoch weniger das Reale festschreiben, als es transzendieren, und dem Unendlichen in der Verkettung von reptetitiven Patterns näherkommen.
Umgekehrt ausgedrückt realisiert sie in einem visionären Unterfangen die Unwahrscheinlichkeit als Bildlösung. Indem sie die Geradlinigkeit und Systematik ihrer visuellen Formensprache durch Verschiebungen, Aussparungen, Knicke und Verrückungen immer wieder aufbricht und keiner vorbestimmten Bildlogik unterwirft, behauptet sie den fiktionalen Charakter von Kunst als opera aperta. Dadurch tritt das Werk in einen unmittelbaren Dialog mit dem Betrachter, dessen Wahrnehmung durch die Serialität eines programmatischen Entwurfes und deren gleichzeitiger Störung irritiert wird. Die Mikrokalibrierung der Wahrnehmung schafft Unsicherheiten und Zweifel, an dem was man sieht: What you see is not what you get! Ausgezackte Linien, im Raum schwebende Kreise, expressive Kringellinien, die wie gerissene Saiten eines Musikinstruments aussehen, unterbinden den Eindruck, dass die Bilder sich die Perfektion als Ziel gesetzt haben. Vielmehr werfen sie Fragen auf. Wie genau muss man eine Struktur vermeintlich identischer Sukzessionen betrachten, bis dass ein System Krümmungen und Abweichungen aufweist? An welchem Punkt hebt die Ästhetik mit der Logik der Wissenschaft auf?
Esther Stockers Oeuvre folgt dem Rhythmus der Wiederholung, dem Programm des Netzes, dessen Vorgeschichte bis weit in die Vergangenheit reicht und in der Gegenwart eine wahr gewordene sozial-technologische Utopie von zyklisch und rekursiv organisierten Lebenswelten verkörpert. Wenn Kontrolle und Zufall sich treffen, dann beginnen die markanten Grenzen des Werkes von Esther Stocker zu vibrieren. In einem permanenten Balanceakt, der das Chaos als Chance begreift, entsteht eine Kunst der Transgression.
Informationen zur Künstlerin:
Esther Stocker
1974 geboren in Silandro, Italien/Südtirol
1994 Akademie der Bildenden Künste, Wien
1996 Accademia di Belle Arti di Brera, Milano
1999 Art Center College of Design, Pasadena, California
Esther Stocker lebt und arbeitet in Wien | lives and works in Vienna
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Auszeichnungen und Preise:
2008 Preis der Stadt Wien
2007 Südtiroler Preis für Kunst am Bau
2004 Otto-Mauer-Preis, Förderpreis für Bildende Kunst des BKA
2002 Anton-Faistauer-Preis, Paul Flora Preis
Vertreten durch:
Galerie Krrobath, Wien